Ein geschäftiges Wochenende auf einem der großen Clubfestivals Europas, verbunden mit einem Aufenthalt in einem wahrhaft einzigartigen Hotel…
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Nichts kann Unvoreingenommene auf die Reeperbahn vorbereiten. Zur Klarstellung: Die Reeperbahn ist eine Straße, auf (und um) der das namensgebende Festival stattfindet. Eine legendäre Location im 20. Jahrhundert wegen ihrer Rolle in der Geschichte der Beatles und als eines der bekanntesten Rotlichtviertel Europas, ist der heute pulsierende, kakophonische gut einen Kilometer lange Streifen Heimat von Hunderten Bars, Clubs, Veranstaltungsorten, Restaurants, Kasinos, Sexshops und bierverkaufenden Kiosken. Und dann, obendrauf, legen sie vier Tage im Jahr noch eins drauf und platzieren mitten hinein ein gigantisches Festivalgelände.
Doch dieses zentrale Festivalareal mit der riesigen Spielbude-XL-Bühne und Dutzenden von Bars und Essensständen ist nur ein Ausläufer dieses Monsterfestivals. Neben einem weiteren offiziellen „Festival Village“, das neben dem Millerntor-Stadion des FC St. Pauli liegt, nutzt das Reeperbahn Festival unglaubliche 70 Spielstätten und präsentiert Indie-, Rock-, Electronica-, Jazz- und Rap-Acts aus allen Ecken der Welt, dazu eine umfangreiche Konferenz mit Lesungen, Panels, Gesprächen und Preisverleihungen. Es ist Europas größtes Clubfestival und um es klar zu sagen: Es ist nichts für diejenigen, die das schöne Chaos von Menschenmengen nicht genießen.
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Zum Glück hat Clash eine sichere Zuflucht vor diesem aufregenden Tohuwabohu. Auf der anderen Seite des erwähnten Stadions steht eines der einzigartigsten Gebäude einer jeden Stadt weltweit. Es gibt viele verschiedene Namen dafür, nennen wir es einfach Der Bunker. Es ist ein riesiger Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg, der kürzlich umgenutzt und in eine mit Pflanzen bedeckte (es gibt etwa 10.000 Quadratmeter Grünfläche) eigene Stadt verwandelt wurde. Innerhalb seiner Betonwände und auf mehr als zehn Etagen befinden sich eine Bar, ein Restaurant, ein Café, mehrere Veranstaltungsräume, eine Musikschule, eine Boulderwand, ein UFC-Fitnessstudio und ganz oben das REVERB-Hotel von Hard Rock.
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Wir kommen am Donnerstagabend an (obwohl das Festival am Mittwoch beginnt) und werden sofort mitten ins Geschehen geworfen. Nach einem kurzen Auf- und Abgehen über die Reeperbahn, um uns zu orientieren, geht es ins Molotow (einer der wichtigsten alternativen Musikspielstätten Hamburgs) und in den Keller, um Slate aus Cardiff zu sehen. Die Vierercombo sind junge Meister des dramatischen, düsteren Post-Punk und beschwören fesselnde Klanglandschaften herauf, die diesen verschwitzten Kellerraum wie einen wolkenverhangenen walisischen Berggipfel wirken lassen. Einige neue Stücke sind das Highlight des Sets und versetzen den Raum dank der intuitiven Rhythmusgruppe und des charismatischen Frontmanns Jack Davies, dessen hypnotische Gesten die Texte vor unseren Augen praktisch miterzählen, in Trance.
Nach einem kurzen Abstecher zur Spielbude XL, um ein paar Stücke einer koreanischen Math-Rock-Band namens Dabda zu hören, die wie eine Mischung aus Toe und Pom Poko klingen, machen wir uns auf in eine der vielen Seitenstraßen auf der Suche nach dem BETTY-Club. Als erster von mehreren Hamburg-Reisetipps: Diese Seitenstraßen sind voller Überraschungen und beherbergen einige der besten Bars und Restaurants. Wir kommen gerade rechtzeitig für Unpeople an. Die britischen Rocker machen großen Spaß, verbinden rohe, kantige, schwere Grooves mit eingängigen Melodien. Sie sprühen vor Energie und liefern Berge herzerwärmender Refrains über „den Druck fühlen“ und „einen Zusammenbruch haben“. Diese Jungs könnten durchaus eine zeitgenössische Version von kultigen britischen Rockacts wie Don Broco oder Twin Atlantic werden, und es ist cool zu sehen, dass das Reeperbahn Festival auch Bands der härteren Gangart präsentiert.
Der letzte Act des Abends ist im Ton und in der Energie das genaue Gegenteil. Dry Cleaning betreten die Bühne im unaussprechlichen Uebel & Gefährlich; ein Raum für tausend Personen, irgendwo im Herzen der gewaltigen Struktur gelegen. Sie sind eine der größten internationalen Bands auf dem gesamten Festivalprogramm, sodass der Raum proppenvoll ist, doch die lakonischen Texte der Band, die formlosen Songs und die coole, aber steife Bühnenpräsenz der Frontfrau Florence Shaw erzielen beim Publikum kaum Reaktionen.
Der zweite Tag beginnt mit einem Buffetfrühstück im unglaublich gemütlichen La Sala im obersten Stock des Bunkers, gefolgt von einer Führung durch das Hotel. Im vergangenen April eröffnet, bietet das musikfokussierte und thematisierte REVERB einen Hard-Rock-Shop, der St.-Pauli-Fanartikel und Waren anderer lokaler Geschäfte verkauft (hier liebt man Fritz Cola), dazu eine Bar, gestaltet von einem bekannten deutschen Koch, und über 130 Zimmer, von denen mehrere dafür ausgelegt sind, Tourbands zu beherbergen. Über eine faszinierende und sehr nordeuropäische kommunale Initiative können diese Künstlerzimmer nur über die Stadt gebucht werden und stehen Musikern zu einem ermäßigten Preis zur Verfügung.
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Nach einem Bummel durch die freundliche, grüne und ultra-alternative St.-Pauli-Region, die ein absolutes Muss ist, wenn man das Reeperbahn Festival besucht, geht es wieder auf die Straße zu einigen musikalischen Nachmittagsfreuden. Zuerst ein Auftritt von Patina Records aus Dortmund im hübschen Mojo Jazz Cafe. Das temperamentvolle Rap-Kollektiv liefert eine enthusiastische Show und tauscht aggressive Bars aus — für diesen Schreiber eine willkommene erstmalige Begegnung mit deutschsprachigem Rap. Weiter die Straße hinunter bringen Night Tapes den vollen HAKKEN-Saal zum Glühen. Die britisch-estnische Band spielt üppigen, ätherischen Indie-Pop, angeführt von einer wunderbaren Frontfrau, deren hohe Töne und Tanzbewegungen mehr als einen Hauch von Kate Bush haben.
Hamburg ist eine Hafenstadt (die zweitgrößte Europas) und liegt an der breiten Elbe. Noch ein Reisetipp: Das Hafenviertel ist ein Muss. Es gibt Hunderte Cafés und Bars direkt am Kai, von denen zahlreiche Fährverbindungen abgehen. Mit der Nachmittagssonne, die den Fluss auf der einen Seite erhellt und der geschäftigen Stadt am Hügel auf der anderen — ein magischer Ort, um ein paar Stunden zu verbringen. Mutige Esser können auch das Fischbrötchen probieren; eine lokale Delikatesse aus kaltem, öligen Fisch, Gewürzgurken und großen Stücken roher Zwiebel. Danach lieber auf Körperkontakt verzichten.
Zurück zum Festival und oben im Molotow liefert Just Mustard aus Irland vielleicht das Set des Wochenendes ab. Die Fünf-Mann-Combo macht derzeit einige der eigenständigsten „Indie-Rock“-Stücke, und sie live so klar entfesselt zu sehen, ist bemerkenswert. Es gibt eine My-Bloody-Valentine-Qualität in den physischen Eigenschaften ihrer Musik, besonders beim Bass, der häufig die Brust erbeben lässt. Doch wie so oft bei solchen Festivals macht das Zufallsentdecken unbekannter Bands genauso viel Spaß wie das Anschauen vertrauter Favoriten. Unten im Molotow erobern Gut Health diesen Schreiber und ihr verschwitztes, tanzendes Publikum im Sturm. Die australische Dance-Punk-Band ist am Ende einer langen Tour, doch von ihrer Bühnenshow merkt man nichts. Über eine Reihe unwiderstehlich groovender Tracks rundet das exzentrische Sechsergespann seine Europatour stilvoll ab.
Samstag beginnt später. Man muss bei diesen Festivals vorsichtig sein (und besonders beim massiven, intensiven Reeperbahn), nicht zu viel zu machen und sich bis zum letzten Tag zu verausgaben. Ein sonniger Nachmittag in der nahegelegenen St.-Pauli-Gegend ist ideal zur Erholung. Überall Freiluftmärkte sowie zahlreiche Schallplatten-, Vintage- und Coffeeshops (Warnung: Deutscher Kaffee ist sehr bitter) — ein Viertel, in das man gern ziehen würde. Aber wir müssen weiter, zum Abendessen im La Sala. Lieblingsgerichte zu wählen ist schwer, aber die würzig-thailändisch gewürzte Garnelen-Ceviche als Vorspeise ist eine perfekte Mischung aus Schärfe und Frische; dazu einige großartige kleinere Gerichte wie süßer Pinienkohl und ein kräftiges Petersilienrisotto bereiten Clash sehr schön auf einen letzten geschäftigen Abend vor.
Ein paar größere Acts sind die Hauptattraktionen an diesem finalen Abend. Blondshell sind die Ersten. Sie spielen in den Docks; einer der angenehmsten Festivallocations mit einem großzügigen Balkon und einer stets willkommenen abschüssigen Haupt-Stehfläche. Über zahlreiche großartige Tracks wie „What’s Fair“ befinden sich die US-Singer-Songwriterin und ihre Band in ausgezeichneter, mühelos cooler Form und fesseln den großen Saal mit ihrem aufstrebenden Alt-Rock und pathosbeladener, oft verblüffend witziger Lyrik.
Es folgen zwei sehr deutsche Erfahrungen. Zuerst eine Berliner New-Wave-Band namens Trustfundbabes, die sich in einer spektakulären Location hinter den Docks, der Prinzenbar, daheim fühlt; ein bunter, mit Kronleuchtern versehener Raum, der an eine geheime Festivalbühne erinnert. Die Band ist, ähm, interessant. Aus vielleicht zynisch-britischer Perspektive wirkt das sehr Eurovision und man fragt sich, ob es so amüsant gemeint ist, wie es wirkt. Unbestreitbar eine unterhaltsame Show. Dann, gleich um die Ecke auf der Spielbude XL, zieht eine deutsche Country-Rock-Band namens The Bosshoss problemlos die größte Menschenmenge des Wochenendes an. Als die Stetson tragende Band, angeführt von einem oben-ohne singenden Mann mit Elvis-Drawl, einige Frauen aus dem Publikum auf die Bühne holt für Cover von „Crazy In Love“ und „Word Up“, ist es Zeit weiterzuziehen.
Der letzte Act des Abends und des gesamten Festivals ist Everything Everything. Die Art-Pop/Rock-Band füllt die Docks und hat vermutlich das ausgelassenste und lebhafteste Publikum des Festivals, im Vergleich zu einigen anderen Bands am Wochenende, die den unvermeidlich steinern dreinblickenden „sechs musik vater“-älteren Typen gegenüberstehen, die auf jedem Alternativmusikfestival anzutreffen sind. Die Band ist einfach eine gut geölte Maschine, mit den markanten Vocals von Frontmann Jonathan Higgs als stets willkommener Höhepunkt. Als sie „Get To Heaven“ spielen, fühlt sich das gesamte Reeperbahn Festival wirklich so an, als wäre es auf dem Weg dorthin, entlang dieser wilden und berauschend aufregenden Straße voller musikalischer Freuden.
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Worte: Tom Morgan
Fotografie: Robin Schmiedebach, Tom Heinke, Javid Mozzafari
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